(06-09-2013 01:35 PM)armi94 schrieb: 1) Es geht nicht nur biologisch, vor allem dann nicht, wenn biologische Indikatoren nicht der Wahrnehmung des Individuums entsprechen. Dann müsste man psychologische Indikatoren beiziehen (ultimativ auch biologische, aber die Biologie ist offenbar noch nicht soweit diese restlos abzubilden).
Damit ist entweder die ganz grundsätzliche skeptische Frage gemeint, ob wir überhaupt von irgend etwas wissen können, was wir nicht "direkt" erleben. Diese Frage ist bodenlos. Es gibt keine rationalen oder wissenschaftlichen Argumente gegen den Solipsismus o.ä., vielmehr ist die Ablehnung (oder Annahme der Falschheit) des Solipsismus eine unabdingbare Grundlage für jede wissenschaftliche Untersuchung. Wenn wir aber einmal davon ausgehen, dass andere Tiere (Menschen z.B.) subjektive Erlebnisse haben, und dass diese Erlebnisse mit materiellen, intersubjektiv beobachtbaren Phänomenen einhergehen, dann ist es theoretisch kein grösseres oder grundsätzlich anderes Problem,
a) unser eigenes zukünftiges Leid abzuschätzen,
b) unser eigenes vergangenes Leid abzuschätzen,
c) das vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Leid anderer Menschen abzuschätzen,
d) das vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Leid anderer Tiere ganz allgemein abzuschätzen,
und ich würde sogar sagen, es ist auch grundsätzlich das gleiche,
e) unser eigenes gegenwärtiges Leid abzuschätzen.
Denn was heisst "abschätzen" ("unterschätzen"/"überschätzen"), wenn nicht irgendwie vergleichen mit anderem, im Moment von uns selbst nicht erlebtem Leid? Also setzt e) mindestens eines von a)-d) voraus.
Es gibt somit eigentlich keinen Grund anzunehmen, dass wir das Leid eher über- als unterschätzen. Aus psychologischen Studien (vgl. Cooney) wissen wir sogar, dass z.B. Leute, die gerade eine Wurst gegessen haben, Tieren systematisch weniger (intensives) Leid zuschreiben als Leute, die gerade etwas nicht-tierisches gegessen haben, d.h. a posteriori gibt es gute Gründe anzunehmen, dass nicht-vegane das Leid der Tiere systematisch tiefer einschätzen als vegane, während es den veganen nichts bringt, es höher einzuschätzen, den nicht-veganen aber durchaus etwas bringt, es tiefer einzuschätzen (empathy avoidance, just world bias), die Fleischessenden also in dieser Hinsicht eher einen Bias haben als die vegan lebende Menschen.
Was hat eine vegane Person denn deiner Meinung nach, wenn er das Leid der Tiere massiv überschätzt? Es wäre ja auch im Interesse dieser Person, wenn Tiere nicht leiden würden, so dass man getrost Fleisch essen könnte (ich würde z.B. genau aus diesem Grund auch Austern oder Muscheln essen:
http://sentientist.org/2013/05/20/the-et...mussels/).
(06-09-2013 01:35 PM)armi94 schrieb: 2) Die Externalitäten werden aber weder von „effective“ Altruist Vertreteren berücksichtigt noch von Ethikern (bspw. Horta). Sie gehen einfach davon aus, dass die Präferenzen so sind wie sie „richtig“ sein sollten (ihrer Meinung nach) vergessen aber die negativen Konsequenzen derjenigen die „falsche“ Präferenzen haben (bspw. Fleisch mögen). Genausowenig werden Produktivitätseinbussen von Menschen nicht mit denen der Tiere verglichen, was ein Menschenleben relativ wertvoller macht (da ist es auch nicht relevant, dass es Menschen gibt mit keiner Produktivität, relevant ist, dass man die verlorene Grenzproduktivität der Menschen + alle externe Effekte + alles Leid dem der Tiere gegegnüberstellt).
Ich verstehe die Einwände nicht wirklich. Ist der Einwand, dass jemand, der die Präferenz hat, Fleisch zu essen, mehr leiden wird als all die Tiere, die gegessen würden? Das ist doch absurd. Ist ein Barbecue wichtiger als das Leben eines Tieres? Krokodilleder wichtiger, als das Leben eines Krokodils? Wäre es also auch ethisch korrekt, (abgeschottete, "asoziale") Menschen zu essen, wenn die Präferenzen der Menschen nur gross genug sind?Ausserdem führen Flyer und Veg-Ads ja zu einer "freiwilligen" Änderung des Konsumverhaltens, da macht es keinen Sinn, die ursprüngliche "Präferenz" heilig zu sprechen.
Oder geht es um indirekte long-term benefits? Das gibt es auch bei Veg-Ads, weil da nicht einberechnet wird, dass die Personen, die deswegen weniger Tierprodukte essen, zusätzlich noch weitere Leute überzeugen werden. Ja, Menschen sind i.d.R. produktiver, als Tiere, die eingesperrt sind, aber heisst das, dass es besser ist, Menschen zu retten? Unklar. Wenn wir die Wirtschaft in Entwicklungsländern ankurbeln können, ist das gut für die Leute dort und sie werden weniger leiden. Gleichzeitig werden sie auch mehr Tiere essen, was riesiges Leid generiert. Es geht also in beide Richtungen.
Dass die Produktivitätseinbussen nicht einberechnet werden liegt daran, dass sie vernachlässigbar sind, wenn überhaupt vorhanden. Es gibt auch (probabilistische) Argumente dafür, dass vegan leben die Produktivität langfristig steigert (via Gesundheitsvorteile, weniger kognitive Dissonanz etc.), und allfällige Produktivitätseinbussen fallen v.a. in einer kurzen, jedenfalls aber begrenzten Umstellungsphase ins Gewicht, also auf ein ganzes Leben (oder auf ein paar Jahre) gesehen sind die nicht bedeutsam.
Hier übrigens noch eine Analysis Chart:
http://www.effectiveanimalactivism.org/veg-ads
Beinhaltet sogar animal-to-human conversion rate, weil es z.B. nicht sicher ist, dass Hühner gleich viel leiden können, wie Personen. Man kann in dieser Tabelle seinen eigenen, willkürlichen Umrechnungsfaktor eingeben und sehen, dass die Ergebnisse ziemlich robust sind.
Ein weiterer Punkt: Tierhaltung ist etwas vom grössten Leidverursacher für Menschen (siehe Klimaerwärmung, Regenwaldrodungen, Ozeanverschmutzung o.ä.). Gleichzeitig kann durch eine Umstellung auf eine vegane Ernährung die Weltarmut zu einem Teil minimiert werden:
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http://www.proplanta.de/Agrar-Nachrichte...97118.html
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http://philosophyforprogrammers.blogspot...verty.html
Es ist also nur schon aus Sicht der menschlichen Präferenzen von Vorteil auf eine vegane Ernährung umzustellen.
(06-09-2013 01:35 PM)armi94 schrieb: Sie sollten reingehören (angenommen Sepziezismus ist per se nicht wünschenswert, was ich nicht unbedingt glaube) aber dieser Schluss ist weit vom Schluss der EA-Vertreter entfernt. Sie behaupten ja sogar, dass es am Kosten-effektivsten sei wenn man Tierleid verhindert. Diese Schlussfolgerung geht also davon aus, dass das verhinderte Grenzleid bei Tieren mit den geringsten Kosten erzielt werden kann. Dafür benötigt man aber eine umfassende Wohlfahrtsbetrachtung um diese Behauptung wissenschaftlich zu stützen (und nicht mal die wäre hinreichend, weil es ja um das verhinderte Grenzleid geht nicht um eine Gegenüberstellung!). Soweit ich weiss gibt es dieses bisher nicht in ernstzunehmender Form. Dieser Schluss hat daher mit Wissenschaftlichkeit nichts zu tun. Was mich auch nicht stören würde, wenn sie sich denn nicht auf den Sockel der Wisschenschaftlichkeit stellen würden.
Was sind deine Einwände gegen den Anti-Speziesismus?
Dies bietet vielleicht eine gute Diskussionsgrundlage:
http://www.tier-im-fokus.ch/mensch_und_t...ziesismus/
Du hast vollkommen recht, dass es noch extrem schwierig ist, wissenschaftlich abzuschätzen wo und wie man am effektivsten Leid verhindert. Aber nur weil es schwierig ist, heisst es nicht, dass man es nicht approximieren kann (die EA-Bewegung in der Schweiz wird wird sich in der nächsten Zeit genau mit diesen Researches vertiefter auseinandersetzen!).
(06-09-2013 01:35 PM)armi94 schrieb: Ja womöglich „sollten“ sie dass, aber sie werden es nie tun, weil die Rechte von Menschen mit Präferenzen bestimmt werden (auch wenn es Ethiker wären).
Diesen Einwand versteh ich jetzt nicht genau, sorry.
(06-09-2013 01:35 PM)armi94 schrieb: Wie bereits erwähnt, ich bin gerne offen für wissenschaftlich sauber Untersuchungen für dieses Thema. Und offensichtlich haben die Menschen einen Gewinn durch Tierkonsum, sonst würden sie diesen nicht vornehmen (gegeben ihren „falschen“ Präferenzen). Desweiteren könnte man argumentieren, dass bei gewisser Haltungsweise der Tiere gar kein Leid entsteht, man sich also problemlos mit biologischen Produkten ernähren kann (inkl. Fleisch).
Selbst wenn es Formen der Tierhaltung gibt, wo die Tiere völlig glücklich aufwachsen, ohne Stress oder Angst abtransportiert werden, und schmerzlos getötet werden, dann wird das nicht annähernd genügend effizient sein, um den jetztigen Konsum von Tierprodukten zu decken. In Amerika leben 99% der Nutztiere in Massentierhaltung, und auch in der CH sind es 90%. Viele Personen, mit denen man über Ernährung und Tiere reden, sagen, dass sie nur von lokalen und tierfreundlichen Bauernhöfen kauft. Statistisch ist dies extrem unwahrscheinlich, und ich denke nicht, dass sich mit einer solchen Haltung gross etwas verändert. Mit Veganismus setzt man hingegen ein Zeichen, dass einem die Angelegenheit wichtig ist. Ausserdem bringt man so ja auch gewisse Leute dazu, sich Gedanken über die Herkunft des Fleisches zu machen, selbst wenn nicht alle, mit denen man redet, auch vegan oder vegetarisch werden. Meme-Spreading scheint in der Angelegenheit ein wichtiger Faktor zu sein.
Zudem: willst du dieses Argument auch auf Menschen übertragen wollen? Dies wäre die logische Schlussfolgerung, sofern der Speziesimus nicht haltbar ist.
(06-09-2013 01:35 PM)armi94 schrieb: Ja die braucht man wohl, aber wenn man die Wohlfahrt nur in einer Dimension maximiert, heisst dass noch lange nicht, dass man sich in der „bestmöglichen“ Welt befindet. Und bei mehreren Dimensionen ist dann die moralisch richtige Vorgehensweise nicht mehr ganz so „klar“.
Welche anderen Dimensionen schlägst du denn zusätzlich noch vor, nebst Leid/Glück/Präferenzen?