Ich halte einiges von diesem "feuchten Traum". Denn was ist schlussendlich in den letzten Jahrzehnten geschehen, wenn nicht genau ein Steuern der Anreize? Wurden unsere Bedürfnisse nicht genau durch viel Werbeaufwand in eine von der Wirtschaft gewollte Richtung gelenkt und manipuliert? Wieviel sinnloses Geld wurde investiert, damit Menschen das Gefühl bekommen, dass sie jetzt unbedingt noch ein Stück „Ragusa“ während der Kinopause konsumieren sollen. (Ok, eigentlich ist ein Ragusa schon was Feines!) Viele unserer Wünsche wurden gemacht und sind nicht aus einem natürlichen Interesse entstanden. Vor 10 Jahren war es für alle noch sehr einfach vorstellbar ohne ein Smartphone durch Leben zu kommen, aber heute würde für viele eine Welt zusammenbrechen, wenn sie nicht mehr auf dieses Kommunikationsmittel zurückgreifen könnten (mir würde es wohl nicht viel anderst ergehen). Das meiste, was wir konsumieren brauchen wir nicht wirklich, aber unsere Wirtschaft muss ständig neue Anreize schaffen um uns bei Konsumlaune zu halten; muss uns ständig mit neuen Produkten füttern, ansonsten würde sie zusammenbrechen und wir mit ihr. Der Zwang nach Wachstum ist überall vorherrschend und somit auch der Zwang nach Werbung und der Manipulation von Präferenzen. Der Kapitalismus hat doch genau aufgezeigt wie einfach man Anreize steuern kann bzw sogar muss! Und wenn dies „die Wirtschaft“ kann, weshalb sollte nicht auch der Staat dazu in der Lage sein?
Und ja, ich bin der Ansicht, dass unser kurzfristiges Denken auf unser Wirtschaftssystem zurückzuführen ist. Es führt dazu, dass den Manager, Lobbyisten usw nur dann etwas an der Zukunft liegt, wenn es in ihrem Interesse liegt. Vorher scheren sie sich einen Deut darum und der Erhalt des Status quo ist ihnen viel wichtiger. Ich will damit nicht behaupten, dass Manager schlechtere Menschen wären, überhaupt nicht, aber das System erlaubt ihnen in ihrem Beruf nur auf den kurzfristigen Nutzenentscheid Rücksicht zu nehmen, ansonsten sind sie bald ihren Job los.
Deine Aussage „die Leute müssen es wollen“ stimmt natürlich. Jedoch ist ein Wunsch nicht etwas, was man unabhängig vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld betrachten kann. Wenn wir die Wünsche von den Menschen in Westeuropa betrachten so differenzieren sich diese extrem von denjenigen in Nordkorea. Aber in beiden Fällen sind sie doch auch abhängig vom Aufbau des Wirtschaftsystems.
Im Kapitalismus sind zum Beispiel die Wenigsten bereit freiwillig auf etwas zu verzichten bzw ihr Verhalten zu ändern um ökologische Kosten zu verhindern– auf jeden Fall nicht, wenn sie dies alleine tun müssten. Und solange die anderen nicht ebenfalls auf einen Teil ihres Wohlstandes verzichten müssten, tun wir nichts. Und genau dieses allgemeine Misstrauen gegenüber den anderen Mitmenschen ist auf unsere Art und Weise des Wirtschaftens zurückzuführen, welches uns jeden Tag von neuem dazu zwingt mit anderen in den Wettbewerb zu treten und den eigenen Vorteil zu suchen. Unserem angeborenen Sinn für Kooperation und Solidarität ist dem wohl nicht allzu hilfreich. Dafür ist es uns jederzeit willkommen, andere Leute für ihr Verhalten zu kritisieren und verachten (seien dies Politiker, Banker o.ä.), aber am eigenen Verhalten gibt’s selten was auszusetzen. Dementsprechend ist es auch schwierig, die Menschen moralisch für etwas aufzufordern ohne ihnen auch einen Vorteil aufzuzeigen oder anzubieten. Sie handeln in diesem System oft erst dann moralisch (in unserem Fall ökologischer), wenn entweder alle anderen auch so handeln oder wenn es in ihrem (materiellen) Interesse liegt. Aber selten weil sie es ideologisch für das Beste halten.
Dein Vergleich mit dem zweiten Weltkrieg gefällt mir hier jetzt nicht so gut. Es sollte doch um die Frage gehen, inwiefern Menschen bereit sind ihr Leben zu verändern um auf eine längerfristige, schädliche Umweltveränderung Einfluss zu nehmen wie dies z.B. beim Klimawandel der Fall ist. Dass sich Menschen innerhalb kurzer Zeit für etwas aufopfern können ist ersichtlich, aber ob sie dies auch immer für langfristige Ziele machen, ist nicht so klar.
Ein schönes Beispiel liefert hierzu die Osterinsel. Die wissenschaftliche Lage ist hier nicht hundert Prozent klar, aber die populäre Theorie von Jared Diamond geht davon aus, dass sich die Inselbewohner untereinander einen Statuen-Wettkampf geliefert haben, welche ein Statussymbol darstellten. Dieser hatte schlussendlich solche Ausmasse angenommen, dass der Bau dieser Statuen extrem viel Ressourcenverschleiss mit sich zog und mit der Zeit fast der ganze Wald abgeholzt wurde. Und durch den damit einhergehenden Verlust an Nahrung mussten sie auf das Meer als Nahrungsquelle wechseln, wobei sie die Delphine, Land-und Seevögel ausrotteten. Die darauffolgende Hungersnot führte zum Zusammenbruch ihrer Kultur und die Bevölkerung nahm drastisch ab. Wieso sah das niemand kommen? Wieso wurde nichts gegen die Waldrodung unternommen? Ich kann mir gut vorstellen, dass es den meisten Inselbewohnern genauso ergeht wie uns: man sieht vielleicht ein Teil des Problems, aber hält es nicht für so wichtig um das Leben so umzugestalten, wie es der Regenerierung des Waldes von Nöten wäre. Ein anderer Grund ist wohl, dass für sie schon immer Bäume gefällt wurden und dass es auch nicht so schlimm sein kann, wenn der letzte gefällt wird. Dieses Phänomen der „shifting baselines“ habe ich oben ja schon erwähnt und trifft auch hier zu: das Problem ist auch immer ein Problem der relativen zeitlichen Betrachtung. Ein Inselbewohner sieht in den letzten 10 Jahren der Rodung keinen grossen Unterschied, hätte er jedoch 100 oder 200 Jahre gelebt, so würde er das Problem viel eher einschätzen können.
Es gibt einige Gemeinsamkeiten mit dem heutigen Zustand. Wir wachsen so schnell und verbrauchen so viele Ressourcen wie nie zuvor und dennoch sieht es nicht danach aus, als ob wir unser Leben in den nächsten 10-20 Jahren gross ändern würden. Klar wird es einen technologischen Fortschritt geben, der allein wird aber nicht ausreichen um unser Umgang mit den Ressourcen zu ändern. Und ich glaube ebenfalls nicht, dass die Wirtschaft allein, ohne die Hilfe von Staaten und deren finanzielle Mittel/Anreize dies auf die Reihe kriegt.
Ein weiteres Beispiel ist für mich die Laufzeit der AKWs. Was den CO2 Ausstoss anbelangt sind sie ökologisch vielleicht gut, aber sie führen dazu, dass viel weniger in erneuerbare Energieforschung investiert wird. Ganz zu schweigen vom Transuran, welcher auch nach vielen Jahrtausenden nicht an die Umwelt gelangen darf und somit für (sofern überhaupt) spätere Generationen unzumutbar ist. Auch hier glaube ich, dass ohne einen staatlichen Zwang es noch einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte gedauert hätte, bis in Europa die Energiekonzerne freiwillig den Atomausstieg gewählt hätten.
Yeah, dank meinem Post wird ich nun wohl für mein Leben lang als staatsgläubiger Gutmensch abgestempelt (vielleicht müsste man meinen Titel sowieso ändern?
).. Zu meiner Verteidigung: eigentlich bin ich nicht sooo staatsgläubig wie ich rüberkomme, aber solange wir dem Kapitalismus treu bleiben, so lange bleibe ich dessen Kritiker. Ich habe mich vor 4-5 Jahren intensiv mit der Freiwirtschaft beschäftigt, hab nun jedoch das meiste wieder aus dem Gedächtnis verloren. Ich will in diesem Thread keine Diskussion darüber starten (dafür müsste ich mich sowieso zuerst wieder einlesen), aber ich finde deren Kritik an unserem Geld- (bzw Zins-) System sehr interessant und teile, wie oben ersichtlich, auch deren Urteil über unseren Wachstumszwang und den fragwürdigen Zielen unserer Politiker, dass man das BIP um jeden Preis steigern muss.
Ich finde es übrigens sehr interessant mit dir zu diskutieren Pax, aber unsere verschiedenen Überzeugungen scheinen so eklatant auseinander zu liegen, dass es schwierig sein wird einen gemeinsamen Nenner zu finden.