Das mit den statistischen Pitfalls macht in der Tat Sinn.
Könnte sich Geld in Wahlen und Abstimmungen aber nicht auch anders auswirken? Vielleicht ist es wie in einem Abnutzungskrieg - keine Seite kann gewinnen, aber eine Seite kann verlieren. Vielleicht kann man einen Wahlkampf nicht aktiv mit Geldeinsatz gewinnen, man könnte ihn jedoch sehr gut verlieren, wenn man zuwenig Geld einsetzt und das Propagandafeld ganz dem Gegner überlässt. Ich behaupte nicht, dass es so ist, ich stelle es einfach mal in den Raum. Weil mir will nach wie vor nicht in den Kopf, wieso soviel Geld in den Wahl- und Abstiummungskampf investiert wird, wenn es doch keine Vorteile mit sich bringt...
Was ist mit Agendasetting? Darin ist die SVP auch top und ich sehe auch da einen gewissen Zusammenhang mit ihrer finanziellen Kraft. Wer andauernd Initiativen lanciert und das Referendum ergreift, der beeinflusst die politische Debatte enorm und rückt sich stets ins Rampenlicht - egal ob die Initiative oder das Referendum durchkommt oder nicht.
armi94 schrieb:True, aber da lese ich einen Artikel von Ex-Bundesrat Hubacher und der zieht genau dieselbe Schublade wie die "weniger Gebildeten". Die politische Linke hat doch praktisch den gleichen Bias.
Das ist schon so, nur ist die SVP in ihrem Stil ziemlich unique in der Schweiz. Imo ist sie die populistischste Partei der Schweiz.
armi94 schrieb:Klar, es gibt ein Problem wenn nicht die ehrlichsten/besten gewählt werden, aber dass eben Personen und nicht nur Kompetenzen gewählt werden ist eher eine Politikerverschuldung/Institutionenverschuldung als die der Wähler.
Ich verstehe nicht ganz, was Du damit meinst. Meinst Du, dass durch eine Umgestaltung von Institutionen dafür gesorgt werden könnte, dass Wähler weniger aufgrund ihrer emotionalen Präferenzen und Ideologien und mehr aufgrund der Qualitäten und Kompetenzen der Kandidaten wählen würden?
armi94 schrieb:Bezüglich das Volk hat immer recht. Stimme ich soweit zu, bis auf Menschenrechte. Aber wer hat denn sonst mehr recht? Wissensaggregation über heterogene Bürger zeigt üblicherweise und unter gewissen Beidngungen sehr wünschenswerte Eigenschaften. Meist trifft man eben die richtige Wahl im Aggregat (Condorcet Jury Theorem, Malcom Gladwell: The wisdom of crowds). Bei gewissen, spezifischen Themen zb. wie man technisch ein Atomkraftwerk baut, mag es vorteilhaft scheinen Experten zu fragen, bei vielen anderen Fragen (wie wertvoll ist eine Firma, wie schwer ist eine Kuh, wieviell Wert ist ein Apfel, welches ist der beste Kandidat?) scheinen Gruppen unglaublich gute Entscheidungen zu treffen die üblicherweise niemand systematisch besser fällen kann.
Ich kenne das Paper nicht, aber mir kommen Menschenrechte und Staatsverfassung mehr wie das Atomkraftwerkbeispiel und weniger wie das Apfel- und Kuhbeispiel vor.
Imho stecken Menschenrechte einfach einen gewissen Rahmen ab, in dem das Volk frei entscheiden kann. Und es ist ja nicht so, als ob grundsätzliche Fragen völlig ausser Reichweite der Mitbestiummg durch das Volk wären. Aber ich finde es richtig, dass sich der DIREKTE Einfluss des Volks nicht auf sämtliche Entscheidungen ausdehnen soll, eben genau weil einige Zusammenhänge unglaublich komplex sind und sehr weitreichende und schwer abschätzbare Folgen haben können. Deshalb sollte man vermeiden, dass schwerwiegende Entscheidungen "voreilig" und "aus dem Bauch heraus" getroffen werden.
Stichwort Staatsverträge vors Volk. Oder die Aufhebung der Personenfreizügigkeit. Das ist nicht nur nerviges Rumgetrolle von der SVP, dass mir persönlich voll auf den Sack geht, sondern ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, weil die Konsequenzen einer Annahme völlig unabsehbar sind. Zwar ist die Mehrheit des Volks gegen diese Vorlagen, aber es könnte eben doch in die Hose gehen. Es könnten sich kurz vor den Abstimmungen die Ereignisse überstürzen: Deutschland macht sich mal wieder unbeliebt bei der Schweiz, der Euro kriselt plötzlich noch etwas mehr, ein pädophiler Rumäne vergeht sich an einem schweizer Mädchen, ein neuer Lohndumpingskandal wird publik - schwupps rutscht die Zustimmung über 50%, und zwar nicht mal unbedingt, weil sich viele "Dumme" von diesen Ereignissen zu einem Bauchentscheid haben verleiten lassen, nein, es könnte genausogut sein, dass die Gegner der Vorlage durch die Ereignisse plötzlich keine grosse Motivation mehr verspürt haben, zur Urne zu gehen und die Beführworter andererseits eine besonders grosse Motivation verspürt haben. Oder es gibt eine "Denkzettelabstimmung".
Um nochmal mit dem Pilotenbeispiel zu kommen: Ich als Passagier sollte dem Piloten nicht bei jeder Bewegung des Steuerknüppels dreinreden können. Dadurch, dass ich mich in sein Flugzeug setze, habe ich ihm mein Vertrauen ausgesprochen und mich damit einverstanden erklärt, dass er das Flugzeug nach bestem Wissen und Fähigkeiten steuert. Er kann es einfach besser als ich. Und selbst, wenn ich von den Qualifikationen des Piloten nicht überzeugt bin oder wenn ich grundsätzlich Angst vor dem Fliegen habe, sollte es mir zu Denken geben, dass die Mehrheit der Passagiere offenbar keine Probleme mit dem Piloten hat.
Womit wir beim Thema Legitimität wären. Legitimität ist nichts objektives. Eine Regierung ist legitim, wenn sie von ihren Subjekten als legitim wahrgenommen wird. Theoretisch kann also sogar ein Talibanregime legitim sein. Die indirekte Demokratie, wie sie zB in Deutschland funktioniert, ist in den Augen der meisten Deutschen legitim (obwohl der Ruf nach mehr direkter Bürgermitbestimmung auch dort immer lauter wird). Wir Schweizer hätten mit dem deutschen System Mühe, für uns ist die direkte Demokratie legitimer als die indirekte. Wir haben weitreichendere Mitbestiummungsmöglichkeiten als die Deutschen, und das ist in unseren Augen gut so. Die Mehrheit der Schweizer unterstützt dieses System.
Der SVP unterstelle ich, dass sie Legitimität anders definiert: Jeder Entscheid einer legitimierten Regierung muss von einer Mehrheit des Volkes getragen werden, sonst ist er nicht legitim. Das ist BS imho, eben weil viele Dinge extrem komplex sind und wir aus Sicherheitsgründen dem Piloten nicht ständig ins Steuer greifen sollten. Wenn wir die Entscheidungen der Regierung/des Piloten nicht goutieren, dann können wir uns bei der nächsten Wahl/Abstimmung/Flug ja anders entscheiden.
Wenn jetzt natürlich eine Mehrheit der Bevölkerung die Legitimitätsdefinition der SVP teilen würde, würde sich auch unsere Definition von legitimen Regierungen und legitimen Regierungsentscheiden ändern. Aber aus meiner Sicht und imho aus der aktuellen Sicht der Mehrheit der Schweizer ist das kein erstrebenswerter Zustand und sollte verhindert werden. Die mehr oder weniger stark ausgeprägte Unantastbarkeit der Menschenrechte ist u.a. ein Instrument der Sicherung unserer jetzigen Vorstellung von Legitimität. Ein Verfassungsgericht wie in Deutschland wäre ein anderes.
Schluss jetzt, ich tuckere mit dem Zug durchs Engadin und sollte aus dem Fenster gucken, anstatt auf den Bildschirm zu starren :-)
Edit @ Pax: Ich persönlich finde die SVP schlimmer als die SP, aber mir ist schon klar, dass das meine subjektive Meinung ist, die ich allerdings zu untermauern versuche. Mir geht es hier nicht um Ausgewogenheit. Obwohl ich die SP mittlerweile auch Kacke finde, kreide ich hier trotzdem einseitig die Fehler der SVP an.